Andrzej Stasiuk

Andrzej Stasiuk, der in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor gilt, wurde 1960 in Warschau geboren, debütierte 1992 mit dem Erzählband Mury Hebronu (Die Mauern von Hebron), in dem er über seine Gewalterfahrung im Gefängnis schreibt. Stasiuk wurde 1980 zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte seine Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen. 1986 zog er nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden. Er ist freier Mitarbeiter bei der Zeitschrift Czas Kultury und der Wochenzeitung Tygodnik Powszechny. 1994 erschienen Wiersze miłosne i nie (Nicht nur Liebesgedichte), 1995 Opowieści Galicyjskie (Galizische Erzählungen) und Biały Kruk (Der weiße Rabe; 1998), 1996 der Erzählband „Przez rzekę“ (Über den Fluss) und 1997 Dukla. In seinem eigenen Verlag Czarne brachte er eine Sammlung mit Texten von Zygmund Haupt (1907-1975) heraus und leitete dadurch die Wiederentdeckung dieses in die USA emigrierten Autors ein, der als Meister der literarischen Reportage gilt.

Rezensionen

Andrzej Stasiuk: Dojczland

  • Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 03.01.2009 (Perlentaucher)

Rezensent Jörg Magenau ist ausgesprochen froh, dass Deutschland „oder vielmehr Dojczland“ zur literarischen Topografie dieses Schriftstellers gehört. Denn den Reportagen, die Andrzej Stasiuk über das Land geschrieben hat, wann immer er dort auf Lesereise unterwegs gewesen ist, konnte er viel abgewinnen. Was Stasiuk über Deutschland schreibt, klingt für ihn nach einer „fortgesetzen Psychoanalyse“ und „Trauma-Erneuerung“, aber auch nach viel Sinn fürs Lesen von Absonderlichkeiten, von Landschaften und Gegenden im Um- oder Aufbruch. Aber auch hintergründige Parallelen zwischen scheinbar so Unvergleichbarem wie Bukarest und Stuttgart arbeitet Stasiuk dem hochinspirierten Rezensenten zufolge subtil heraus, der von ihm schließlich das Prädikat „humorbegabter Melancholiker“ erhält.

  • Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 11.09.2008 (Perlentaucher)

Über Andrzej Stasiuks Bericht von seinen Lesereisen durch Deutschland hat sich Jörg Plath trotz oder vielleicht gerade weil sie gnadenlose „Klischeemühlen“ sind, zum größten Teil glänzend unterhalten. Der polnische Erfolgsautor, der in seiner Heimat für dieses Buch von konservativer Seite wegen seiner „despektierlichen“ Haltung gegenüber Polen angegriffen wurde, ruft sämtliche Klischees über Deutsche und Polen auf, die man sich nur denken kann und „schwadroniert“ munter dahin, stellt der Rezensent amüsiert fest. Dadurch entsteht eine Reibung von „Eigen- und Fremdklischee“, die Plath durchaus fruchtbar zu finden scheint. Zudem findet der Rezensent es beeindruckend, wie der Autor, der sich in diesen Reiseberichten als trinkfeste slawische Seele inszeniert, en passant aber eben sehr eindrucksvoll, auch die Nazi-Vergangenheit Deutschlands in den Blick nimmt.

  • Konrad Schuller im FAZ.net Feuilleton (14.10.2008): Nach Deutschland fahren ist Psychoanalyse

Da fährt einer durchs Land. Verdammt cooler Typ. Kennt keinen, will keinen kennen. Hat seinen Jim Beam im Rucksack, schläft auf der Bank, hängt auf Bahnhöfen herum, und ob nun Bullen oder Skins die Nacht bevölkern, ist ihm gleich. Badezimmer sind ihm suspekt, und Wein, sagt er, schmeckt fast wie Whiskey. Kein netter Kerl, diese Ich-Figur, die der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk in seinem kleinen Road-Essay „Dojczland“ über die Provinzbahnhöfe der Bundesrepublik stromern lässt. Einer von diesen Typen, die keine Gelegenheit auslassen zu versichern, wie sehr sie das alles langweilt. Er sei „nur wegen der Knete da“, sagt er. Ignorant, überheblich, ein wenig schmierig. Natürlich Schriftsteller. Etwas zwischen Hilfs-Bukowski und Ersatz-Kerouac.
Stasiuks Tramp, der Deutschland gewissermaßen von den Bahnhofstoiletten her aufrollt, ist eine der doppelbödigsten Figuren, die das deutsch-polnische Drama in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat. Nicht dass Stasiuk hier ein abschließendes Porträt des Polen in seinem Verhältnis zu Deutschland geliefert hätte; so ein abschließendes Porträt gibt es nicht. Er hat aber mit seinem dichtenden Landstreicher eine der ungezählten Schutzmasken beschrieben, die viele Polen bis heute brauchen, wenn sie Deutschland ertragen wollen, einen der vielen Tarn- und Sicherheitsanzüge, die notwendig sind, um diesen Nachbarn auszuhalten.

Andrzej Stasiuk: Galizische Geschichten (suhrkamp taschenbuch)

  • Mechior Sommer (Kundenrezension Amazon)

In einem kleinen Dorf in Polen, unweit der slowakischen Grenze. Die Zeiten haben sich geändert, aber die Landschaft und die Menschen sind nach wie vor die gleichen. Stasiuks Ensemble rekrutiert sich aus den, sogenannten kleinen Leuten und aus dem Fleckchen Erde auf dem sie leben. In ruhigem Ton erzählen uns Stasiuk und seine Figuren von den wirklich wichtigen Dingen - den Jahreszeiten, dem Licht, Leben, Tod und geplatzten Träumen. Die persönlichen Schicksale bilden die roten Fäden der Geschichten, Stasiuk nimmt sie auf und erzählt. Einige dieser Fäden kreuzen einander, dann werden Situationen gebrochen, oder in einen anderen Zusammenhang gestellt. Auf diese Weise entsteht ein dichtes Netz, das sich über das Dorf legt und es erzählend einfängt. Stasiuk ist ganz nah bei den Menschen, folgt ihnen und hört ihnen zu.
Andrzej Stasiuk gehört zu den wichtigsten lebenden polnischen Schriftstellern, wer dieses Buch gelesen hat, wird wissen warum.

  • Anmutige Aura der Traurigkeit - Von Paul L. Walser in WOZ 47/02 (Zürich)

 «Die Welt hinter Dukla» hat den polnischen Schriftsteller Andrzej Stasiuk auch bei uns bekannt gemacht. Dieses vor zwei Jahren erschienene Buch nennt sich Roman, ist aber mehr eine sehr persönliche, ganz ruhige und zugleich ungemein spannende Litanei, die von der Stimmung lebt. Es ist die Stimmung nach der Wende von 1989/90 in einer gottverlassenen und zugleich sehr frommen Ecke Osteuropas im Südosten von Polen. Das Heimweh nach der alten, der kommunistischen und der vorkommunistischen Zeit ist nicht am Platz, aber trotzdem da. Die Zukunft heisst Westeuropa oder einfach EU, sie ist noch nicht in unmittelbarer Nähe, aber man wird ihr nicht entkommen.
Genau diese Stimmung finden wir wieder in den «Galizischen Geschichten». Wer «Die Welt hinter Dukla» liebt, wird auch jetzt wieder begeistert sein. Die einzelnen Texte sind Porträts einsamer Menschen, die sich eigentlich überlebt haben und im Niemandsland zwischen Gestern und Morgen umherirren. Doch mitunter haben sie eine engelhafte Leichtigkeit. Stasiuk hat diese Texte vor der «Welt hinter Dukla» geschrieben, gleichsam als Hauptprobe; im Nachhinein nehmen sie sich wie Fingerübungen aus, und der verschlafene, verstaubte Ort mit dem dunkel klingenden Namen Dukla kommt bereits hier immer wieder vor. Pralle Bilder, in denen die windstille, klebrige Sommerhitze, das Dösen aus Erschöpfung, der Winterfrost und der lebenslange Frust greifbar deutlich und riechbar werden.
Die Menschen, die auftauchen, sind fast durchwegs alt und fast schon Jenseits-Gestalten. Es gibt kein Entrinnen, es ist, wie es ist, ungeheuer statisch. Man ist weit weg von den Schalthebeln der Weltgeschichte, doch entkommen kann man ihr nicht. Von dem, was mal war, gibt es noch Reststücke, zum Beispiel den alten Traktor der einstigen LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft), der eigentlich Schrott ist, aber noch immer rattert. Die Rettung wird schliesslich der Tod sein, doch bis es so weit ist, gibt es zum Glück noch mehr als eine einzige Zigarette und noch viel mehr als ein Glas Bier, Wein oder Wodka. Inhalt, Ton und Stil dieser Texte lassen auf einen bejahrten Verfasser schliessen; dabei ist Andrzej Stasiuk, der in Warschau seine Jugend verbrachte und seit 1986 in der südostpolnischen Abgeschiedenheit lebt, erst 42 Jahre alt.
Stasiuks Galizien ist müde, ausgebrannt, verloren und gleichwohl vital, weil es einen Rest seiner Authentizität bewahrt hat. Trotz aller Schwere ist das Leben halt doch lebenswert - wenigstens solange man sich noch auskennt. Wenn alles ganz anders wird und ganz anders aussieht und anders angeschrieben ist wie zum Beispiel die importierten Waren im neumodernen Kiosk von Wladek - was dann? In Stasiuks vordergründig lakonischen Geschichten geistert sehr unsentimental die Hoffnung herum, dass die galizische Welt, die am Rand des Untergangs und zugleich in der Mitte einer starken Tradition lebt, schliesslich doch nicht ganz untergehen wird. Oder doch? Dann wäre dieser Geschichtenreigen zusammen mit der «Welt hinter Dukla» ein melancholischer Abgesang. Aber haben in dieser Weltgegend nicht immer wieder von neuem stille Abgesänge für Kontinuität gesorgt? Sind Klagelieder nicht auch stets Botschaften des Widerstands?
In der Geschichte «Lewandowski» lesen wir: «Wir gingen zurück. Der Geruch der Müdigkeit führte mich, die Aura der Traurigkeit, die Menschen ausstrahlen, die nie weinen, weil die Tränen ihren Körper mit den Schweisstropfen zusammen verlassen (...) Die Fensterscheiben waren schon schwarz. Das Licht hatte eine schwefelartige Grellheit angenommen. Die getüpfelten Wände, der verblasste Fussboden, der Stapel mit versifften Töpfen, das Messer auf dem Tisch, (...) alles ringsum war mit übernatürlicher Deutlichkeit getränkt. Wir leerten seine Flasche, um mit meiner anzufangen. Wir wurden uns leicht einig. Ich hörte ihm zu.»
Stasiuk ist ein Zeitgenosse, der genau hinhören und genau hinschauen kann. Er kennt den Ton der grossen osteuropäischen Erzähler und ist imstande, ihn aufzunehmen und eigenständig weiterzugeben. Es ist jene unvergleichliche Mischung aus Trauer und Anmut, mit der Osteuropa seit Jahrhunderten überrascht und überlebt. Mit seinen Gestalten kann sich der Erzähler zumindest während des Schreibens identifizieren, sie alle haben ein schweres Leben; Leid und Leiden ist das Leitmotiv, das alle miteinander verbindet und deshalb irgendwie erträglich wird. Härter noch als die Männer trifft das Schicksal hier hinten in Galizien die Frauen. Wieso? Die uralte Oma, deren Hütte der Blitz versengt hat, weiss es: «Der Herrgott ist ein Mannsbild, jaja, der Herrgott ist ein Mannsbild.»

  • Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 04.02.2003 (Perlentaucher)

Ganz verzaubert zeigt sich Rezensentin Kristina Maidt-Zinke von Stasiuks Erzählungen aus dem polnischen Galizien, diesem „von geheimnisvollem Eigensinn vibrierenden Schattenreich“ an der Grenze zur Slowakei, das Stasiuks deutschen Lesern durch „Die Welt hinter Dukla“ bekannte sein dürfte. Doch in seinen galizischen Geschichten, die im polnischen Original zuerst erschienen, verwandele Stasiuk die Region nicht in einen „metyphysischen Sehnsuchtsort“, sondern nähere sich ihr erzählerisch. Dabei, freut sich die Rezensentin, kommt Stasiuks große Begabung zur literarischen Reportage voll und ganz zu ihrem Recht. Stasiuk erzählt in diesen Stücken, schwärmt Maidt-Zinke, von der „Monotonie des stoisch ertragenen Elends“, Geschichten zwischen Finsternis und Zwielicht, von Traktoristen, Raupenschleppern, Kioskbesitzern und Dorfhuren, Figuren aus dem Armenhaus Europas ebenso wie aus einer zeitlosen tragischen Commedia. Und das alles in dem leisen, leicht-süchtig-machenden Stasiuk-Ton, den Renate Schmidgall, wie die Rezensentin lobt, „hervorragend“ ins Deutsche übertragen hat.
Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 28.11.2002 (Perlentaucher)
Katharina Döbler findet diese galizischen Geschichten einfach zauberhaft. Andrzej Stasiuk zeichne darin die enge, „verschlunzte“ Welt einer ländlichen LPG, in dem der sozialistische Traktorfahrer nicht fehlen dürfe, und in dem, nach dessen symbolischem Tod, auch sein „Gespenst nur wenig aus dem Rahmen der örtlichen Gewohnheiten und Gewissheiten falle“. Diese Erzählungen als „eine Art Bauerndrama von Schuld und Sühne“, in einer „spezifisch ländlich-polnischen Variante mit viel Katholizismus und sozialistischem Ruin“ zu lesen, heiße allerdings, nur einen Aspekt dieser Prosa zu sehen. In den als sukzessive Porträts angelegten Erzählungen um die zyklische Eintönigkeit des Lebens zeige Stasiuk sein Interesse am Menschen, am „Realismus des Partikularen“, der die Beschäftigung mit großen Zusammenhängen „höchst spekulativ“ geraten lasse. Doch genau da liegt für Döbler der Reiz des Buches: Der Horizont hänge so tief, „dass die Aufmerksamkeit an einem dreckigen Stiefel hängen bleibt“. Besonders gefallen haben der Rezensentin die Passagen über die „An- und Abwesenheit des Lichts“. Fast wünscht sie sich, die Realität möge dieser Fiktion gleichen: „Man könnte glauben, dass die Welt dort tatsächlich so galizisch, so zauberhaft und so dreckig ist. Aber, realistisch betrachtet, ist nur das Buch so“.
 
Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand

  • Bücher, litmag, 5. Oktober 2011 (Carl Wilhelm Macke)

Zu den Schriftstellern, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ständig unterwegs waren in den immer am Rande der Scheinwerfer gelegenen Regionen Ostmitteleuropas gehört sicherlich der Pole Andrzej Stasiuk. Bücher wie „Die Welt hinter Dukla“, „Unterwegs nach Babdag“ oder „Galizische Geschichten“ gehören inzwischen schon zu den Klassikern der Literatur aus den Zeiten unmittelbar nach der Epochenwende von 1989. Diese Erkundungen im Niemandsland irgendwo in den vergessenen Winkeln Polens, der Ukraine, der Slowakei, von Moldawien und Rumänien setzt er jetzt mit seiner bislang umfangreichsten Erzählrecherche im „blinden Fleck Europas“ fort.
Die beiden Hauptfiguren Pawel und Wladek tingeln mit ihren Billigtextilien von einem Markt zum anderen quer durch gottverlassene Gegenden in den polnisch-, ukrainischen-, rumänischen Grenzgebieten. Der Kommunismus hat dort nichts als verwüstete Landschaften und richtungslos herumirrende Menschen hinterlassen. Hart heißt es an einer Stelle, dass die Menschen hier „eben nie imstande waren, selbständig zu leben, sie waren nicht imstande, Entscheidungen zu treffen und sie haben kein Gefühl mehr dafür, dass man falsch entscheiden kann“. Die Menschen, die Wladek und Pawel auf den Märkten treffen, haben die Schnauze voll, von allen Heils- und Zukunftsversprechen. „Sie glauben an nichts und wollen die Wahrheit wissen. Vor allem wollen sie wissen, wer sie so verarscht hat.“ Wenn sie noch irgendeine Sehnsucht haben, dann nach einem endlich auch hier aufblühenden Kapitalismus, der bisher aber nur als  schlechte Kopie und dritte Wahl angekommen ist. Überall stößt man auf Gebrauchtwagenmärkte, auf technischen Billigschrott aus Fernost, auf Massenkonsumware, die nach kurzem Gebrauch auch schon wieder auf dem Müll landet. Und wo mit diesen Waren kein Geld mehr zu machen ist, verlegt man sich eben auf den lukrativen Menschenhandel, um die einschlägigen Nachfragen auf den Westmärkten zu befriedigen.
Wären da nicht die beiden trotz allem lebenshungrigen Hauptfiguren und einige kauzig verschrobene Menschen auf den Märkten, dann würde dieser Roman nichts weiter als eine einzige triste Reise in das Herz einer verwüsteten Waren-und Seelenlandschaft bieten. Mit seiner kräftigen, manchmal fast barocken, mit einigen der Figuren auch liebevoll umgehenden Sprache – mitreißend von Renate Schmidgall ins Deutsche übersetzt – schafft es Andrzej Stasiuk aber, den Leser keinen einzigen Moment lang zu langweilen. Bis zur letzten Seite glaubt der Leser zusammen mit den beiden Hauptfiguren über die Landstraßen in der Welt „hinter Dukla“ zu rumpeln und hinter dem Verkaufsstand mit Billigklamotten auf den Dorfmärkten zu stehen.
Die literarische Qualität des Romans steht in einem umgekehrten Verhältnis zum Warenschrott, der hier den armen Käufern angedreht wird. Manchmal scheint es in dieser Tristesse von Armut und Resignation tatsächlich noch einen Erzählreichtum zu geben, von denen wir auf der anderen Seite der Blechwand oft nur noch träumen können. Und Andrzej Stasiuk dient mit diesem Buch – wie auch schon mit seinen früheren Veröffentlichungen – nur als Chronist einer im Untergang befindlichen Welt.
Man kann dieses Buch auch lesen als ein einziges großes Requiem auf die mittelosteuropäische Kultur nach den kommunistischen und dann kapitalistischen Verwüstungen. „Sie schwitzten, sie strengten sich an wie vor hundert, vor zweihundert Jahren, aber es war das Ende. Sie würden verschwinden, untergehen, an Altersschwäche sterben.“ Und den Rest erledigen und verscherbeln dann die Chinesen, die heute schon dabei sind, die Provinzmärkte Osteuropas zu erobern. Dieses Buch sollte lesen, wer immer noch von den „blühenden Landschaften“ nach dem Ende der staatlichen Planwirtschaft träumt und glaubt mit aufdringlichen Parfümwolken schöner Worte die Menschen in denGegenden „hinter der Blechwand“ eine gerechte Zukunft zu versprechen. „Das hier ist die letzte Generation“, sagt Wladek an einer Stelle. „Danach gibt’s nur noch die Rotzlöffel, die mit diesem Müll aufgewachsen sind.“
 

  • Martin Graff in der Badischen Zeitung, 17.12.2011

Statt Freiheit lieber Gleichheit
Es gibt Autoren, die unser Leben begleiten. Sie gehören sozusagen zur Familie. Jeder Leser macht diese Erfahrung. Der Pole Andrzej Stasiuk gehört zu meinem Lebenskreis. Er bereist Tag und Nacht Mitteleuropa, einen Planeten, der für die einen in Straßburg beginnt, für die anderen in Wien, Endstation unbekannt. Er ist der Nachfolger von Claudio Magris, des Donaupoeten aus Triest. Wobei beide nicht unterschiedlicher sein könnten. Magris bleibt das geistige Sprachrohr der Donaumonarchie und kennt jeden Dichter zwischen der Donauquelle und dem Donaudelta am Schwarzen Meer. Magris erklärt uns die Welt von gestern, Stasiuk beschreibt die Welt von heute. Beide Autoren faszinieren mich nicht nur wegen ihrer schriftstellerischen Qualitäten, sondern auch weil ich diese Terra Incognita selbst immer wieder beackere.Wir kennen dieselben Dörfer, dieselben Kneipen, dieselben Flüsse, dieselben Berge, die gleichen Menschen.
Als Wladek in Stasiuks neuem Roman mit seinem Freund Pawel und unbekannten Menschen hinter der Blechwand, die die Fahrerkabine vom Laderaum des Lieferwagens trennt, die Tiza überquert, denke ich an meine Nacht am Ufer der Tiza : Die Polizei jagte einen Pawel und einen Wladek. Zehn Menschen hatten schon im Nebenfluss der Donau ihr Leben verloren. Die Schleuser versteckten sich im Busch. Ich fuhr am Fluss entlang. Vollmond. Musste jeden Augenblick damit rechnen, dass der eine oder der andere mit einer Waffe vor der Motorhaube auftaucht. Wie reagieren? Die Konfrontation blieb aus. Die Polizei kontrollierte mich sechs Mal in 24 Stunden: „Schriftsteller?“ Die alte Kiste mit ungarischem Kennzeichen, die ich steuerte, kam ihnen verdächtig vor, aber der französische Pass beruhigte sie, als ob es in Frankreich keine Menschenhändler gäbe.
 Wenn die Europa-Politiker aus dem Westen auch nur ein Buch von Stasiuk gelesen hätten, würde die Grenze der EU heute noch in Wien verankert sein. Obwohl sie diese Menschen jahrzehntelang ideologisch gelockt haben und sie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sozusagen kometenhaft in unsere kapitalistische Welt geschleudert haben. Heute werden sie vom Westen als demokratischer Ballast betrachtet.
Pawel besitzt einen klapperigen Ladewagen, Marke Ducato. Wladek ist ein fliegender Händler. Das Duo reist mit seinem Ramsch durch das Fünfländereck: Polen, Slowakei, Ukraine, Rumänien, Ungarn; beim Europarat als Euroregion der Karpaten bekannt. Aber Stasiuk redet nicht von Euroregion. Er ist ein Poet. Über seine Mitmenschen schreibt er „Sie rochen den Braten, und statt Freiheit hätten sie lieber Gleichheit gehabt“.
Timothy Garton Ash schenkt uns folgende Geschichte über die Europäer, die im Fünfländereck leben: Ein Einwohner der Kleinstadt Mukatschewo erzählt einem Besucher, dass er in Österreich-Ungarn auf die Welt kam, das Alphabet lernte er in tschechoslowakischen Schulen, geheiratet hat er in Ungarn, am längsten hat er in der Sowjet-Union gearbeitet und die Rente genießt er in der Ukraine.“Sie sind viel gereist!“, kommentiert der Besucher. „Nein“, antwortet der alte Mann, ich habe Mukatschewo (heute Ukraine) nie verlassen.“
„Bildung, Bildung und nochmals Bildung! Verstanden? Ohne sie bist Du gar nichts. Ohne sie wirst du immer denken, es ist normal, wenn du mit deiner Schwester Verkehr hast, und ein Grund, sich in der Stadt zu brüsten. Oder wenn du’s mit einem Schaf machst. Sag mal, wie heißt das in der Sprache, ein Schaf ficken?“, fragt Pawel den Menschenhändler, der ihm mit der Pistole den Weg zeigt und als Antwort eine Kugel aus der „Skorpion“ am Ohrläppchen vorbeischießt. Schon haut Wladek den Typen aus dem Fahrerhaus auf die Straße.
Stasiuk schreibt nicht mit dem Zeigefinger des Besserwissers. Er entfaltet den Alltag der Menschen in Mitteleuropa in der 3D-Version der Autoren von Format: Humor, Poesie, Stil. Literatur als Kino. Magie des Wortes. Der Pole zeichnet uns den Handelskosmos in Mitteleuropa mit dem Skalpell seiner Beobachtungsgabe. Spannend ist, wie die Faszination der westlichen Produkte von ihren chinesischen Nachahmern ersetzt wurde. Das Fernsehen wirkt wie ein Tsunami aus virtuellen Bildern, die sofort von einer realen Untergrundmarktwirtschaft abgelöst werden, im weiten China produziert. Die müden Talkshows über die Globalisierung wirken wie Weihnachtsmärchen aus einer anderen Welt. Überall sind Verbrecher am Werk, die die Demokraten im Schach halten.

Während die Rating-Agenturen wie Finanzastrologen die Staaten ins Schwanken bringen, sitzen die Bürger in der Falle. Stasiuk beschreibt seine Landleute gnadenlos. „Es ist noch nicht lange her, da haben sie Dinge fürs ganze Leben gekauft. Und jetzt kommt ihnen in den Sinn, dass sie neue Schuhe wollen ... die Händler ziehen sie am Ärmel, hier ist es noch billiger … und schließlich gehen sie mit dem Ergebnis einer chemischen Reaktion in der Plastiktüte nach Haus und wundern sich, wenn nach einer Stunde in diesen Schuhen ihre Plattfüße stinken wie faule Eier.“ Die einzige frohe Botschaft des Buchs ist die Rebellion von Pawel und Wladek, als sie den Chef der Menschenhändler in seinem Schloss in Transkarpatien besuchen.Die Kandidaten für den Westen sind wie Tiere in einem Stall eingesperrt. Beide Freunde schaffen es, den „Grauen“ zu eliminieren und die Reisenden zu befreien, aber für wie lange? Aber die Mühle der Menschenverachtung läuft wie geschmiert weiter. Das Wasser der Demokratie bleibt trüb.

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